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Sound und Film

Eine der ersten Erkenntnisse bei der anfänglichen Beschäftigung mit dem Thema Sound und Film ist diejenige, daß es reichlich wenig Erkenntnisse gibt, wenn man die Bedeutung bedenkt, die der Ton für den Film hat. Und diese wenigen Erkenntnisse werden noch geringer bei der Betrachtung der Schnittstelle zwischen Produktion und Rezeption: der Übertragung des Tons in die Ohren der Zuhörer und der daraus resultierenden Wirkung. Was im Theater unmittelbar, fast nur abhängig von der Raumakustik und den deklamatorischen Fähigkeiten des Schauspielers erfaßt wird, verlangt beim Film einen nicht geringen technischen Aufwand, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Das jedoch vor allem in einer Kategorie, die so im traditionellen Sprech- wie Musiktheater kaum eine Rolle spielt; einer Kategorie allerdings, die für einen Großteil der produzierten Filme – das sind die Genrefilme – von wesentlicher Bedeutung ist: die Geräusche.
Eine einfache Unterscheidung der Toninformationen eines Filmes ist – nach Christian Metz (hier nach Monaco 1995, S. 215) – die Unterteilung in a) Dialog, b) Musik und c) Geräusch (Toneffekte), wobei unter a) auch alle monologischen Formen des Sprechens wie überhaupt alle Formen unmittelbar bedeutungstragenden Sprechens zu verstehen wären (ich bin geneigt, Formen menschlicher Artikulation, die Ausdruck emotionaler Erregung sind wie Schreie, Lachen, Stöhnen usw., in die dritte Kategorie einzuordnen wegen der Wirkung, die diese Töne auf den Rezipienten haben). Die Abhängigkeit von den Reproduktionsbedingungen nimmt bei diesen Kategorien von links nach rechts ebenso zu wie ihre emotionale Relevanz, während umgekehrt die intellektuelle Bedeutungsgenerierung beim Dialog am stärksten ist. So ist etwa für die Erfassung der reinen kommunikativen Information die Tonqualität bei der Rede bis hin an die Verständnisgrenze irrelevant. Anders sieht es allerdings schon hier bei den neben der Sprache vermittelten Emotionen aus, die als Nuancenelemente nicht von den Prinzipien der abstraktiven Relevanz sowie der apperzeptiven Ergänzung profitieren, wobei im Rahmen der apperzeptiven Ergänzung die Mimik des Schauspielers eine gewisse Ausgleichsfunktion innehat. In ähnlicher Weise kann die Musik charakterisiert werden: sie steht insofern dem Dialog nahe, als für ihre intellektuelle Bedeutung die Klangqualität kaum eine Rolle spielt. Die diskursiven Elemente der Filmmusik werden auch in „Low-End“-Qualität wahrgenommen, während die emotionale Wirkung hingegen wieder bestimmte, vor allem technische Bedingungen ihrer Realisation erfordert. Wenn hier die Rede von „diskursiven Elementen“ der Musik ist, die traditionell als am wenigsten diskursive Kunstform angesehen wird, so sind damit weder Formen von Programmusik gemeint noch die beliebten Formen der Figuren- oder Ereignischarakterisierung durch Leitthemen und -motive (wie etwa die Figurenthemen in C’era Una Volta il West (Ennio Morricone) oder die (selbstreferentielle) Anspielung auf Raiders of the Lost Ark in Indiana Jones and the Last Crusade durch die kurze Aufnahme des der Bundeslade zugeordneten musikalischen Motivs (John Williams)). Im Film kann Musik eine Informationsvermittlung übernehmen, die in ihrer Eindeutigkeit (und auch der emotionalen Wirkung) einem Zwischentitel vergleichbar ist: wenn z.B. in einem Film eine Gruppe schwarzer Jugendlicher auf einer Straße gezeigt wird und dazu ein Gangsta-Rap gespielt wird, so beschreibt diese Musik das sozio-kulturelle Milieu dieser Jugendlichen mit all den Klischees, die durch die häufige Verwendung dieser Kombination für den durchschnittlichen Rezipienten selbstverständlich geworden ist. Musik ist hier Code, dessen Bedeutung für den Zuschauer sofort einsichtig ist, gleich wie er emotional zu der Musik steht bzw. welche Emotionen diese Musik bei ihm auslöst. Wo jedoch Musik als Code auftritt, ist ihre klangliche Repräsentation unerheblich, da hier durch ihre in den Vordergrund tretende Informationsfunktion die gleichen Bühlerschen Prinzipien wirksam werden wie bei der Kommunikation durch Sprache.
Eben das gilt aber auch für das Geräusch: wo es zum informationsvermittelnden Code wird, ist es nur notwendig, daß der Code in seiner Bedeutung als Code erkannt wird, um seine Funktion zu erfüllen (z.B. ein Schuß). Allerdings spielt bei Geräuschen die Funktion als Code für eine Einzelinformation die geringste Rolle; außer bei Informationen, die durch Geräusche im Off vermittelt werden, wird die Codefunktion meistens durch visuelle oder dialogische Mittel mitrepräsentiert (oder sogar in vielen Fällen überrepräsentiert, da die Redundanz vielleicht das am häufigsten eingesetzte Prinzip ist, einen Film für ein weites Publikum verständlich zu machen).
Anders verhält es sich mit der emotionalen Relevanz, wobei das Geräusch im Film eine andere Form von Emotionalität vermittelt bzw. erzeugt als die Musik, deren Wirkung auf den Rezipienten als einfache, gerichtete Emotionalität bestimmt werden könnte, da sie zumeist eindeutige Emotionen hervorzurufen bestrebt ist. Im Gegenzug müßte dann die Emotionalität der Geräusche als komplexe, diffuse Emotionalität bezeichnet werden. James Monaco verwendet den Begriff „akustisches Umfeld“ und verweist auf den Einfluß des akustischen Umfelds in der „musique concrète“, beschränkt seine Betrachtung dann aber darauf, daß „ein großer Teil des modernen Hörspiels“ „das ungeheure Potential dessen erkannt“ hat, „was bisher ganz einfach ‘Toneffekte’ genannt wurde“ (Monaco 1995, S. 216). Was aber ist dieses „ungeheure Potential“? Es kann doch nur in der Wirkung liegen, die das akustische Umfeld hervorruft, eben diese komplexe, diffuse Emotionalität, wobei der Blick auf die Wirkung des Phänomens zugleich den Blick auf die technischen Reproduktionsbedingungen lenkt: mit einer vordergründig naiven Gleichsetzung könnte man die Begriffe der Komplexität und Diffusion auf die Technik übertragen, und – man gelangt tatsächlich zu Kategorien der technisch adäquaten Umsetzung modernen Filmsounds.
Und spätestens an dieser Stelle tritt die eingangs erwähnte Erkenntnislücke zutage: auf der einen Seite findet sich jemand wie James Monaco, dessen Standardwerk sich im großen und ganzen umfänglich auch mit der technischen Seite dieser technischsten Kunstform auseinandersetzt und der weiß: „Im Idealfall ist der Ton eines Films ebenso wichtig wie das Bild.“ (Monaco 1995, S. 122), jedoch bei einer der entscheidendsten Formen der Sounddarstellung, dem Dolby Stereo-System und seinen Verwandten, nur feststellt, daß der „Dolby-Schaltkreis das Grundrauschen“ reduziere und „so den Tonbereich beträchtlich“ verbessere (ebd., S. 126), um dann zu der etwas resignativen Einsicht zu gelangen: „nur Liebhaber legen auf leistungsfähige Video-Audio-Anlagen wert, wie sie – trotz der bedeutenden ästhetischen Interdependenz von Bild und Ton – beim breiteren Publikum noch keinen Anklang finden.“ (ebd., S. 478). Und daß, obgleich wenigstens in der Phase der Post-Produktion eines Films etwa die Hälfte des Zeitaufwandes allein dem Sound gewidmet ist. Auf der anderen Seite scharren sich die Redakteure der eher technisch (im Sinne von Gerätetechnik) orientierten Zeitschriften unter dem George Lucas zugeschriebenen Diktum, daß der Ton beim Film mehr als fünfzig Prozent der Wirkung ausmache, um dort zuerst in bester positivistischer Manier über Dezibel, Grundrauschen, Leistung zu debattieren und dann in der Übertragung des Technischen auf die Erfahrung im Nichtssagenden zu verharren: „Der Ton hingegen kann durchaus überzeugen. Dynamisch und kraftvoll toben die Basketbälle durch den Raum.“ oder „... ist ein echtes Surround-Erlebnis. Neben dynamischen Action-Szenen bestimmen vor allem atmosphärische Eindrücke den Film.“ und ein letztes Zitat: „Die dröhnend-bedrohliche Musik von Howard Shore, der unheilvoll wabernde Motor...“ (alles Zitate: Heimkino 5/94 und 6/94). Sogar in einer der wenigen Zeitschriften, dem Video Watchdog , die sich nicht nur inhaltlich mit dem Film auseinandersetzen, sondern auch mit der Form seiner Reproduktion, tritt die Qualität des Tones fast vollständig hinter die Bewertung der Bildqualität (und ihrer Bedeutung für den Film als künstlerischem Artefakt) zurück. Diese Kluft zeigt sich sowohl in der Theorie wie in der Praxis. Wie viele Arbeiten und Theorien gibt es über den Schnitt, wie viele dagegen über den Soundschnitt; wie viele Theorien gibt es über die Bedeutung der Montage für den Film als Kunstwerk, über ihre Wirkung auf den Rezipienten, während es bei Fragen des Tons schon an den grundlegendsten Fragestellungen mangelt.
Etwa der, warum eigentlich ist der Ton überhaupt so wichtig? Oder: was passiert mit dem Film als Einheit, wenn der Ton mangels angemessener Reproduktionsbedingungen nicht mehr die intendierte Wirkung hervorrufen kann? Welche Möglichkeiten der Erzeugung angemessener Rezeptionsbedingungen gibt es? Welche Formen von Wirkung durch Ton gibt es, welche Soundformen gibt es überhaupt? Wie ist das Verhältnis von Dialog, Musik und Geräusch zu beschreiben, von was ist es abhängig? Und nicht zuletzt: was ist von einer Filmkritik oder Filmwissenschaft zu erwarten, die die meisten Filme unter inakzeptablen Bedingungen (kleine Festivalkinos, magere universitäre oder häusliche Videoeinrichtungen) rezipiert? Gerade mit dem Wissen, daß die inakzeptablen Sound-Bedingungen bei den meisten Aufführungen überwiegen – und das schließt die Kinos mit ein, die häufig den klanglichen Anforderungen nicht genügen –, wird man tunlichst für die Technikbegeisterung mancher Zeitgenossen einiges Verständnis aufbringen, wenigstens solange als in das Bewußtsein derer, die sich da über Film äußern, gedrungen ist, daß für die Wirkung eines Films die angemessene Reproduktion des Sounds entscheidender ist als etwa die Größe der Leinwand. Bevor sich hier noch etwas mit der Wirkung des Films beschäftigt wird (was im Fall des Sounds emotionale Wirkung meint und darum zu einer Einschränkung des Filmkorpus vor allem auf den Genrefilm, dessen erste Absicht die Erzeugung von Emotionen beim Rezipienten ist, führt), ist eine Abgrenzung des Wirkungsbegriffs von einem, nach Lage der Dinge, unausrottbaren Unsinn notwendig: dem Begriff des Erlebens bzw. Erlebnisses. So rekurriert der Slogan der Kinobetreiber: „Im Kino ist der Film am schönsten“ , wobei jeder in erster Linie – natürlich – an die Größe der Leinwand denkt, auf die Vorstellung vom Film als Erlebnis, oder genauer: vom Filmbesuch als Erlebnis, wobei der Film, geht es nach den Vorstellungen der Marketingexperten, zugunsten des Ambientes immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Letztlich spielt es gar keine Rolle mehr, was für ein Film oder nur welcher Film es ist, der da präsentiert wird; die Präsentation wird zum Eigentlichen, der Film zum Anlaß – analog der Entwicklung des Musiktheaters, wo sich am Musical eine ganze Erlebnisindustrie schadlos hält. (Paradoxerweise greift die feuilletonistische Filmkritik beim Kino eben auf diese Erlebniskategorien zurück, z.B. „das Eintauchen in eine andere Welt“ – erlebnisgerecht durch die psychoanalytische Entsprechung der Regression in den Uterus –, die sie kurz zuvor an der Musicalindustrie gegeißelt hat.)
Dem ist entgegenzuhalten, daß das Kino weder notwendig für eine angemessene Rezeption eines Films ist noch in den meisten Fällen hinreichend. Das Erlebnis eines Publikums im vollbesetzten Kino, daß an den falschen Stellen Reaktionen zeigt, ist für die Wirkung des Films eher kontraproduktiv. Auch die Dunkelheit oder das sonstige Ambiente wirken sich eher auf die Begleitumstände aus als auf die Wirkung des Films. Anders verhält es sich mit der Größe der Leinwand, wobei auch hier eine eher paradoxe Beobachtung zu machen ist: die flächige Größe der Leinwand macht sich erst dann wirkend bemerkbar, wenn der Zuschauer so nahe an der Leinwand sitzt, daß die Breite der Leinwand sein Blickfeld überschreitet und er so zu einer Augenaktivität gezwungen ist, die zu einer Illusion räumlichen Sehens führt. In den Kinos sind allerdings die teuersten und daher auch beliebtesten Sitze nicht etwa die wahrnehmungsphysiologisch interessanten, sondern die Plätze hinten, wo in manchen Fällen die Leinwand nicht mehr ist als die Reproduktion des heimischen Fernsehgerätes.
Im Gegensatz zu dieser eher marginalen Möglichkeit, die Wirkung des Films durch die Erweiterung der flächigen in die räumliche Dimension zu intensivieren, steht der Sound. Der entscheidende Vorteil und auch Grund für die seine Bedeutung (natürlich erst bei Filmen, die im Dolby Stereo-System aufgenommen wurden) ist die räumliche Dimension des Tons, die den Rezipienten in ein weitaus „erfahrungsnäheres“ Umfeld versetzt als eine noch so große Leinwand oder andere Bildtricks (die Erhöhung der „Erfahrungsnähe“ etwa durch dreidimensionale Reproduktion der Bilder wurde durch das ungewohnte Tragen der Polarisationsbrillen nahezu wieder eliminiert, von anderen Gimmicks etwa eines William Castle nicht zu reden: immer wurde durch den fühlbaren Einsatz der Technik die intendierte größere „Erfahrungsnähe“ wieder verhindert).
In diesem „erfahrungsnäheren“ Umfeld, das bildhaft auch als Versetzen in eine andere, nicht realere!, Welt verstanden werden kann, werden die Wirkungsmöglichkeiten der zielgerichteten Emotionsintentionen wenigstens erhöht, wenn nicht sogar erst geschaffen. Berücksichtigt man jetzt noch die Ausrichtung des Genrefilms auf emotionale Wirkung beim Rezipienten, so wird deutlich, warum der Sound eine solche Bedeutung für die Wirkung des Films hat. Er ist dabei nicht so sehr selbst emotional wirksam, sondern eher als Umfeld emotionaler Wirkung die Bedingung der Möglichkeit für die Wirksamkeit der anderen visuellen und akustischen Filmmittel. Er ist in dieser Hinsicht diffus, weil er keine unmittelbare Zielrichtung hat, und komplex, weil die Erzeugung des „erfahrungsnäheren“ Raumes sowohl Redundanzen wie auch Aussparungen erfordert.
Von dieser kursorischen Annäherung an die Frage nach der Bedeutung des Geräuschs für den Film kann hier – kurz – der Bogen zu den technischen Bedingungen für die Erzeugung des „erfahrungsnäheren“ Raums geschlagen werden; zumal es wenigstens in dieser Hinsicht einen Standard gibt, der objektive Bedingungen für angemessene Rezeptionsmöglichkeiten vorschreibt. (Die tatsächliche Erfüllung der Möglichkeit hängt natürlich ebenso von den Fähigkeiten der Sound-Spezialisten ab wie den individuellen Dispositionen des einzelnen Rezipienten, die allerdings hier nicht berücksichtigt werden können, da sie als individuelle Erscheinungen der praktischen Wahrnehmungspsychologie zugehörig sind.) Das Dolby Stereo-System beruht in seiner grundlegenden Ausführung auf vier Kanälen: zunächst sind es die beiden aus der Musikreproduktion bekannten Stereokanäle, die beim Film vor allem für die Musik und die Umgebungsgeräusche verwendet werden, der dritte Kanal ist der Mitten- oder Center-Kanal für die Dialoge (die Lautsprecher werden hinter der Leinwand plaziert und binden den Dialogton an die Akteure), und ein vierter Kanal für die Surround- bzw. Effektlautsprecher (zu Hause meistens zwei, im Kino mehrere hintereinander gestaffelte Lautsprecher). Neuere Entwicklungen, wie das AC-3-System, trennen den vierten Kanal für die Surroundlautsprecher in zwei Stereokanäle und fügen einen weiteren Kanal für Effekte vor allem des Subwoofers hinzu. (Gerade der Subwoofer in einer entsprechenden Lautstärke führt den akustischen Wahrnehmungen noch sensuelle hinzu: erinnert sei an das Nahen des Tyrannosaurus Rex in Jurassic Park oder der – nur kolportierte? – Einsatz des „Demutstons“ in The Exorcist .) Weil diese technischen Eigenschaften allein noch keinen optimalen Klangeindruck garantieren, hat George Lucas (eigentlich sein technischer Direktor bei Lucasfilms, Tomlinson Holman) eine Norm entwickelt, die den Ton so reproduzieren soll, wie er ursprünglich geschaffen wurde: THX. Zu dieser Norm gehören einmal Spezifikationen für die Geräte, aber auch Anweisungen, wie die Lautsprecher aufzustellen sind, eine Referenzlautstärke usw. Die einzelnen technischen Anforderungen sind hier nicht so sehr in ihrer Eigenschaft als Technik interessant vielmehr in den dahinterstehenden Forderungen bzw. Vorstellungen von Klang. So sorgt die Dekorrelation des Surroundsignals dafür, daß die Surroundlautsprecher nicht ortbar sind, wodurch ein diffuser Klangraum entsteht. Oder das Re-Equalizing der Frontboxen (im Heimbereich), das die hohen Frequenzen etwas absenkt, wodurch der Dialogton „realer“ wird. Insgesamt wird versucht, die Ziele, die bei der Produktion des Sounds maßgebend waren, möglichst genau in verschiedenen Raumverhältnissen zu rekonstruieren, wobei aus den Rekonstruktionsvorgaben das ursprüngliche Ziel, die Schaffung eines „erfahrungsnahen“ Tonraums, ersichtlich wird. Die THX-Norm setzt also zunächst einmal einen Reproduktionsstandard für den schon vorhandenen Sound, sagt aber ihrerseits – wie alle Technik – nichts über die Bedeutung, die dieser Sound für den Rezipienten hat.
Eine weitere Überlegung zur Frage von Sound und Film muß also an dem Begriff des „erfahrungsnahen“ Klangraums ansetzen. Oben wurde bereits angedeutet, daß dieser entstehende Klangraum gerade kein realistischer ist, obgleich Tontechniker durchaus der Auffassung sind, sie schüfen mit erstaunlicher Akribie zunächst einen „realistischen“ Sound. Ohne uns um diese Selbsttäuschung weiter zu kümmern, macht die folgende Überlegung deutlich, daß ein realistischer Sound logisch unmöglich ist: selbst ein Sound, der aus nichts als Originalton bestände, wäre schon durch die Aufnahme nicht mehr „real“, denn allein die Anordnung (und technische Funktion) der Mikrophone selektiert einzelne Momente aus dem Spektrum der Geräusche. Bestenfalls könnte man von einem Eindruck von Realitätsnähe sprechen, aber selbst das scheint mir nicht ganz richtig, wenn man die Intention des Films berücksichtigt. Es ist ja nicht die Gesamtzahl der (langweiligen) Umgebungsgeräusche, die für die Wirkung eine Rolle spielt, sondern nur ein bestimmter Ausschnitt, und zwar genau jener Ausschnitt, der benötigt wird, um eine atmosphärische Codierung zu erreichen. In einer Großstadt-Straßenszene etwa sind die in der Realität vielleicht hörbaren Geräusche wie Vogelgezwitscher irrelevant, weil sie nichts zur intendierten Atmosphärenwirkung beitragen. Ganz im Gegensatz zu Autogeräuschen, dem Quietschen einer Straßenbahn oder dem Brummen eines Dieselmotors, die dann in Filmen auch regelmäßig akustisch hervorgehoben werden. (Auch das Gegenteil ist häufig zu finden: Schüsse (aus Kleinkaliber- und Kriegswaffen vor allem) zum Beispiel werden gemeinhin in der Lautstärke gemindert, weil sie sonst für den Hörer schmerzhaft wären. Dagegen wirken die auch auf dem Soundtrack reproduzierten Schüsse aus Pulp Fiction gerade wegen ihrer realistischen Lautstärke paradoxerweise eher comichaft.))
„Erfahrungsnah“ heißt also, daß eine durchaus diffuse, aber nichtsdestoweniger codierte Umgebungserfahrung produziert wird; die Erzeugung von Sound-Räumen im Film unterliegt der Vorgabe des „ein Eindruck von ...“; die Selektion, die das Gehirn des Rezipienten ohnehin vornimmt, wird vorgesteuert, um eine spezifische Wirkung zu verstärken oder sogar erst die Voraussetzung einer möglichen Wirkung zu schaffen. Daß sich trotz des selektiven Einsatzes von Geräuschen bei den meisten Rezipienten ein „realitätsnaher“ Eindruck einstellt, ist vor allem dem Prinzip verdankt, das als grundlegend für die Darstellungsweise des Genrefilms angesehen werden kann: dem mimetischen Illusionismus. Dieses Prinzip, das seine Entsprechung beim Film vor allem in der Rede von der „unsichtbaren Technik bei Hollywood-Filmen“ hat, fordert eine durchgängige Illusionierung des Rezipienten, der durch kein Moment und in keinem Moment aus dem illusionistischen Kontext entlassen werden darf. Das führt bei dem Geräuscheinsatz zur Erfahrungsnähe, die oberflächlich als Realitätsnähe verstanden werden kann, weil Erfahrung und Realität des Rezipienten im Rahmen der dargestellten Illusion eng beieinander liegen (müssen), zumindest wenn „Realität“ als Realität innerhalb des dargestellten Kosmos verstanden wird.
In diesem Zusammenhang wird eine Arbeitsweise bzw. Darstellungstechnik der Avantgarde deutlich: sobald etwa eine Diskrepanz zwischen Sound und Bild (aber auch zwischen Dialog und Bild, Dialog und Geräusch, Handlung und Dialog, Musik und Bild usw.) auftritt, wird die Illusionierung des Rezipienten durchbrochen und es treten andere Wirkungen auf: zunächst vielleicht nur ein Gefühl der Verunsicherung, das sich allerdings bis zu einer intellektuellen Hinterfragung dieser Diskrepanz in Hinsicht auf ihre Bedeutung steigern kann. Diese Wirkung ist vor allem dann interessant, wenn sie in Genrefilmen oder dem Genrefilm nahen Filmen eingesetzt wird: in David Lynchs The Elephant Man bleiben im Geräuschbereich vor allem die Industrie- bzw. industrieähnlichen Geräusche in Erinnerung. Eine Analyse des Films ergibt jedoch, daß diese atypische Geräuschkulisse nur in einem quantitativ kleinen Teil des Films vorkommt: zu Beginn auf dem Jahrmarkt; bei der Operationsszene an dem Unfallopfer; während des Gangs von Dr. Treves zum Jahrmarkt; nachts im Hospital; während Merricks Traum von Maschinen; als sich der Pöbel zu Merrick aufmacht; auf dem kontinentalen Jahrmarkt und schließlich bei der Ankunft Merricks in London. Es stellt sich also die Frage, warum diese Geräusche in Erinnerung bleiben und was sie bedeuten. Versucht man wie Fischer diese Geräusche (und andere Elemente) als „leitmotivisch auftauchende Hinweise auf die industrielle Revolution“ (Fischer 1992, S. 82), wie Seeßlen als Verweis auf den „Beginn jener Industriewelt, deren Ende in ERASERHEAD beschrieben war“ (Seeßlen 1994, S. 51) oder wie Kaleta als „the sounds of Victorian London: industrial, modern and urban“ (Kaleta 1993, S. 62) zu deuten, so wäre damit gerade erklärt, warum sie nicht besonders auffällig wären. Als begleitende Geräusche der dargestellten Welt konstituierten sie den „erfahrungsnahen“ Soundraum des Genrefilms ebenso wie Verkehrsgeräusche einen Großstadtfilm oder das Klappern der Pferdehufe einen Western. Diese Konformität zwischen Bild und Ton war in Eraserhead gegeben, wo die Industriegeräusche die bildlich dargestellte verrottende Industrielandschaft in ihrer Wirkung unmittelbar unterstützten; in Hinsicht dieser atmosphärischen Codierung ist Eraserhead ein Genrefilm. The Elephant Man spielt jedoch vor allem in (neutralen) Innenräumen, und auch die Außenszenen, etwa der Jahrmarkt, sind nicht gerade typische Schauplätze industrieller Entwicklung. Hier entsteht ein Kontrast, der gerade, weil er in einem ansonsten meist konventionellen Film auftritt, sich nachdrücklich im Gedächtnis des Rezipienten festsetzt. Ohne auf die Bedeutung dieser Geräuschkulisse im einzelnen einzugehen, sei doch wenigstens soviel angemerkt, daß hier in für den Genrefilm untypischer Weise die Geräusche eine bedeutungsschaffende Funktion haben, die über ein Analogieverhältnis dem Elephantenmenschen John Merrick eine ästhetische Qualität zuweisen, die zunächst nichts mit der über die traditionellen Mechanismen (hier das Hunchback-of-Notre-Dame -Prinzip: Mitleid mit der verunstalteten, gequälten Kreatur) des Illusionismus vermittelten Wertung der Figur zu tun hat. Daß in The Elephant Man über Geräusche eine eigenständige Bedeutung konstituiert wird, und zwar nicht über eindeutig codierte Geräusche, sondern über die diffuse Stimmung, weist in umgekehrter Weise wie in Eraserhead darauf hin, mit diesem Film keinen reinen Genrefilm vorliegen zu haben.
Denn im Genrefilm fügt sich allein der Einsatz von Musik an sich nicht dem Vorhaben, einen „erfahrungsnahen“ Raum zu erzeugen. Interessanterweise ist es gerade die Musik, die durch die ihr innewohnende emotionale Wirkungsmächtigkeit erheblichen Einfluß auf den Rezipienten hat, die – das ist so banal, daß man es sich bewußt machen muß – den größten Kontrast zur Erfahrungsnähe bedeutet. Wie sehr auch Bild, Handlung, Dialog und Geräusche im Einklang stehen: der Einsatz von orchestraler Musik, wenn ein Raumschiff durchs All fliegt, eine Horde Indianer eine Wagenburg angreifen oder ein Detektiv einen Verbrecher verfolgt, ist so absurd in seiner Kontrastivität, daß eigentlich immer der Illusionismus durchbrochen werden müßte. Diese Absurdität wird bisweilen in Komödien, beispielsweise in verschiedenen Variationen in Mel Brooks High Anxiety , herausgestellt, wenn die agierenden Figuren eben auf diese Begleitmusik reagieren, sie also in ihren Erfahrungsraum (und durch den Illusionismus den des Rezipienten) hineinziehen. Hier wird auch dem Durchschnittsrezipienten das groteske Moment klar, aber es wirkt sich nicht auf die Wirkung in anderen Filmen aus. Aus diesem Grund halte ich es für nicht ganz präzise, wenn der Soundeinsatz in Filmen nach dem herkömmlichen Muster der Zweiteilung in begleitenden und konträren oder „kontrapunktischen“ Ton, der auch Monaco folgt (vgl. Monaco 1995, S. 216f.), vorgenommen wird. Dieses dualistische Schema trifft genaugenommen nur auf Geräusche und Dialoge zu; Musik ist immer kontrastiv, sofern sie nicht als Umgebungsgeräusch direkt aus der Szene entstammt. Allerdings sind sowohl bei dem „normalen“ Musikeinsatz wie dem als Umgebungsgeräusch wieder Unterscheidungen zu treffen. Trotz des grundsätzlichen Kontrastes läßt sich ja nicht leugnen, daß zumindest im Rahmen des Genrefilms die programmatische „Begleitmusik“ nahezu immer eine begleitende und die emotionale Wirkung unterstützende oder sogar erzeugende Funktion hat; sie wirkt sogar stärker emotional zielgerichtet als alle anderen Elemente (in dieser emotionalen Zielgerichtetheit liegt wahrscheinlich der Grund für ihre Wirkung im Erfahrungsraum trotz des Widerspruchs zum Erfahrungsraum des Rezipienten). Daneben (und darauf zielt wohl die herkömmliche Unterscheidung) gibt es den Musikeinsatz, der „kommentierend, asynchron und dem Bild entgegengesetzt“ (ebd.) ist. Hier ist wieder in erster Linie an den Avantgarde-Film zu denken, wenigstens fällt mir außer einem drittklassigen Horrorfilm kein Genrefilm ein, wo das Geschehen (im Beispiel: das Scheitern der Protagonisten wird mit einem triumphalen Score unterlegt; ein Produktionslapsus) durch die Musik kontrastiert würde. Eine dritte Möglichkeit wäre in der Choreographie der Bilder, die durch die Musik vorgegeben ist, zu sehen. Dabei können erhebliche Kontraste zwischen Bild und Musik an sich auftreten, die in der choreographischen Einheit allerdings aufgehoben sind (Beispiele wären etwa Beethovens 6. Symphonie „Pastorale“ und der Tanz der Zentauren in Fantasia oder die Verbindung einer um die Erde kreisenden Raumstation mit Strauß’ Walzer An der schönen blauen Donau in Kubricks 2001: A Space Odyssey ).Aber auch im Bereich der Musik als Umgebungsgeräusch (das meint eine Musik, die aus dem Geschehen in der Szene entstammt, z.B. ein laufendes Radio, Musik in einer Konzertsaalszene während einer Aufführung) kann man die Trennung in begleitend und kontrastiv unternehmen. Rein begleitend wäre jede Verwendung zu nennen, wo Musik ihrem Einsatz nach nicht mehr als ein weiteres Umgebungsgeräusch ist, obgleich natürlich die Musik auch in dieser Form ihre emotionale Funktion behält; rein kontrastiv als Umgebungsgeräusch in Fall eines Auseinanderfallens von emotionaler Qualität und szenischer Darstellung (z.B. ein Liebeslied im Radio, während ein brutaler Mord geschieht). Dann gibt es komplexere Verbindungen, für die erneut David Lynch prägnante Beispiele liefert: so hört der Detektiv Farragut in Wild At Heart während seiner Autofahrt im Autoradio (wahrscheinlich) Thems Baby Please Don’t Go , was sowohl begleitender Einsatz als Umgebungsgeräusch ist wie als Charakterisierung Farraguts nicht-kontrastive „Begleitmusik“ wie auch als Reflex auf die Mordabsprache von Lulas Mutter mit Santos ironische Kommentierung – hier auf einer eher intellektuellen Ebene. Bei der Verbindung von Chris Isaaks Wicked Game mit Sailors und Lulas nächtlicher Fahrt (ebenfalls Wild At Heart ) finden sich zugleich Begleitung und ironischer Kontrast auf eher emotionaler Ebene. Eine weitere Möglichkeit ist der Übergang von Musik als Umgebungsgeräusch zu „Begleitmusik“ bzw. Eigenständigkeit. In diese Kategorie wären als Sonderfall die Musicals einzuordnen, wo die Musik zwar aus der Umgebung entsteht, dann aber eine Eigenständigkeit entwickelt, der sich Handlung und Bilder unterordnen (hierin eine Ähnlichkeit zum Bilder bestimmenden Einsatz von „Begleitmusik“). Weiterhin gibt es die Möglichkeit, bestimmte Musikstücke sowohl als Umgebungsmusik wie auch als eigenständig begleitende oder kommentierende Musik zu verwenden. Auch hierfür wieder ein Beispiel aus Wild At Heart: Der einleitende Teil von Slaughterhouse der Gruppe Powermad erklingt zunächst bei der Tötungsszene am Beginn des Films in Form von „Begleitmusik“ ebenso wie in der Szene, als Lula Sailor vom Gefängnis abholt, und der darauffolgenden Liebesszene. Dann ist dieser Ausschnitt als Umgebungsmusik beim Tanzen zu hören: die „Begleitmusik“ wird in die Szene integriert, ist jedoch beim nächsten Einsatz (wieder Straße mit anschließendem Sex) erneut „Begleitmusik“. Dann sucht Sailor im Autoradio nach Musik und findet eben wieder Slaughterhouse : Umgebungsmusik, die während der folgenden Gewalt-Tanz-Performance nahtlos in „Begleitmusik“ übergeht, die durch Strauss’ Im Abendrot als „Begleitmusik“ abgelöst wird. (Die Bedeutung ist naheliegend: Töten, Tanz und Sex werden als ekstatische Erfahrungen miteinander in ihrer Wertigkeit verknüpft.) Hier erhält die Musik eine besondere Funktion der Bedeutungscodierung, die nicht aus ihrer speziellen Eigenart resultiert, sondern aus der Form der Verknüpfung. Ein Gegenbeispiel ist das wohl prominenteste Geräusch in Wild At Heart : das Entzünden des Streichholzes und das Anzünden der Zigarette, die klingen wie eine Explosion und die darauf folgende Feuersbrunst. Allerdings ist hier keine eindeutige Bedeutungscodierung festzustellen: weder als „rhythmisierende Elemente“ (Seeßlen 1994, S. 117) noch als „Verbindungsglied zwischen Sailor und Lula“ (Lynch, zit. nach Fischer 1992, S. 200) noch als Verweis auf den Mord an Lulas Vater oder Gefahr ganz allgemein trägt dieses Motiv. Naheliegender wäre eine Beschreibung als absolute Metapher, als selbstreferentielles Gebilde, dem seinerseits im Kontext des Films wieder eine dezidierte (und auch einsichtige) Bedeutung zukäme, wenngleich es für sich selbst weder informationsvermittelnder Code noch Bestandteil atmosphärischer Codierung, jener beiden Funktionen des Geräuscheinsatzes im reinen Genrefilm, ist. Schon diese beiden Beispiele verdeutlichen, daß es bei der Frage nach der Bedeutung des Sounds nicht nur auf die Bedeutung des singulären Tonereignisses ankommt, sondern auch auf die Form der Kombination sowohl innerhalb einer Tonkategorie als auch der Kategorien untereinander. Demgegenüber steht bei der Frage nach den Wirkungsmechanismen eher das einzelne Ereignis im Vordergrund, da es, um wirkungsfähig zu sein, seine emotionale Relevanz unmittelbar und auch weitgehend unabhängig von den Umgebungsbedingungen entfalten können muß. Im Idealfall kann ein einziges Geräusch (oder ein eng zusammengehöriger Geräuschkomplex) ebensogut wie begleitende „Begleitmusik“ die gesamte atmosphärische Codierung leisten (man denke hier zum Beispiel vor allem an die Erzeugung von Ekel, sei es durch das glitschige Geräusche verursachende Augenreiben Marys in Eraserhead, den Griff des Unfallopfers an oder in den Kopf in Wild At Heart oder das Aufspießen des Gegners und sein anschließendes Herunterrutschen an der Lanze im Prolog von Coppolas Dracula ). Gerade das letzte Beispiel zeigt aber noch einmal die Notwendigkeit technisch angemessener Rezeptionsbedingungen: im „Erlebnisraum Kino“ war von diesem Geräusch, das die unangenehme Brutalität der scherenschnittartig dargestellten Schlachtszene erst voll zur Geltung bringt, nichts zu hören …

Literatur
Robert Fischer: David Lynch. Die dunkle Seite der Seele. München 1992.
Kenneth C. Kaleta: David Lynch. New York [u.a.] 1993.
James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Überarb. u. erw. Neuausg. Reinbek 1995.
Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. Marburg [u.a.] 1994.
Heimkino 5/94, S. 82; 6/94, S. 86.

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